Dr. med. Stefanie Jahn ist Fachärztin für Anästhesiologie, Notfallmedizin, Palliativmedizin, Spezielle Schmerztherapie, Homöopathie und Naturheilverfahren. Ihre Dissertation schrieb sie über „Die Grippe nach dem Ersten Weltkrieg und die Homöopathie im internationalen Vergleich“. Stefanie Jahn arbeitet in einem Berliner Krankenhaus und in eigener Praxis in Hamburg. Im Interview mit dem Berlin Brandenburger Verein homöopathischer Ärzte (BVhÄ) erläutert sie die Rolle der Homöopathie während der Spanischen Grippe in Deutschland und der Welt und schlägt den Bogen bis in die heutigen Tage.
Hintergrund
Die „Spanische Grippe“ ist die bislang verheerendste Pandemie in der Geschichte der Menschheit. Die Grippepandemie begann im Frühjahr 1918, am Ende des Ersten Weltkriegs und trat zumeist in drei Wellen auf. Mit geschätzten 27−50 Millionen Todesopfern und somit mehr Toten als durch den Krieg ist sie die bislang folgenreichste Pandemie. Das Grippevirus wurde erst im Jahr 1933 entdeckt. Da die Erregerfrage ungeklärt blieb, war die konventionelle Therapie vor allem symptomatisch und polypragmatisch. Die Seuche wurde auch von Homöopathen weltweit behandelt. Mitunter wurden diese Behandlungen ausgewertet und Statistiken erstellt. Noch heute berufen sich Homöopathen auf eine erfolgreiche Therapie jener Pandemie und weiterer Seuchen.
Konnte mit der Homöopathie erkrankten Grippe-Patienten in Deutschland geholfen werden?
Das lässt sich nicht mit einem Satz beantworten. Statistische Auswertungen sind mir nicht bekannt. Es existieren lediglich vage Angaben zu Behandlungszahlen und -resultaten. Die Aussagen lauten beispielsweise: „Künzli erklärte, dass sein Vater während der Grippeepidemie des Jahres 1918 keinen einzigen Patienten verloren habe, weder bei einfacher Grippe, noch bei Grippe-Pneumonie. Dingfelder berichtete von „glänzenden Erfolgen“ der Elektrohomöopathie „während der beiden Grippen-Epidemien“. Keiner von etwa 200 auf diese Weise Behandelten sei verstorben. Bei einer Bewertung der Behandlungen durch Homöopathen sind mehrere Aspekte zu beachten und es ist u.a. hilfreich, sich die damalige Situation zu vergegenwärtigen.
Wie sah denn die Situation 1918/19 überhaupt aus – generell und für die Homöopathie?
Es handelte sich bei der Behandlung der Spanischen Grippe durch Homöopathen nicht um eine eindimensionale Therapie! Im Jahr 1919 praktizierten etwa 500 homöopathische Ärzte in Deutschland, im Vergleich zur Gesamtärzteschaft also nur wenige. Die meisten waren in Praxen tätig, überdies gab es einige homöopathische Klinken, beispielsweise in Leipzig, in München und in Stuttgart. In Stuttgart war während des Krieges ein homöopathisch geführtes Lazarett entstanden, finanziell unterstützt von Robert Bosch. Dieses umfasste zuletzt 85 Betten, einen Operationssaal, eine Röntgenabteilung und weitere diagnostische Geräte. Die Seuche brach am Ende des 1. Weltkriegs aus. Es herrschte Ärztemangel, viele Ärzte waren eingezogen oder gefallen. Homöopathische Ärzte behandelten insbesondere in den Kliniken nicht rein homöopathisch. Sie sahen sich in der naturwissenschaftlich-kritischen Richtung, nutzten vor allem Tiefpotenzen und „schulmedizinische“ Diagnostik. Klinikbetten waren rar, d.h. auch in homöopathischen Abteilungen wurden Kranke behandelt, die einen schwereren Verlauf hatten. Die Umstände waren demnach anders als die für homöopathisch tätige Hausärzte, die in der Regel früher mit einer Behandlung begannen, als die Symptomatik noch milder war. Auch gab es Abspaltungen wie die Elektro- und die Komplexhomöopathie. Ein Marinearzt, Wietfeldt, beschreibt, wie er im Lazarett neben Homöopathie Quecksilberinjektionen verabreichte.
Der „Berliner Homöopathische Verein“ unterhielt ein „Laboratorium, in dem „die prompte bakteriologische Erledigung“ zweier Pneumokokkenfälle erfolgte. Man saß nicht im Elfenbeinturm, sondern handelte pragmatisch in jener Zeit am Kriegsende, in der es an Vielem mangelte. Zu unterscheiden ist, in welchem Krankheitsstadium sich die PatientInnen befanden, als Homöopathen mit ihrer Behandlung begannen. Einen großen Stellenwert besaß die Prophylaxe. Viele Maßnahmen – homöopathisch, aber auch naturheilkundlich (hydro- und phytotherapeutisch, diätetisch) sowie Lebensführung (körperliche Betätigung möglichst an der frischen Luft, Einhalten von Bettruhe bei Krankheitsanzeichen) und Hygiene betreffend – fanden mit der Intention statt, sich vor einer Infektion, einem schweren Verlauf bei Erkrankung und Folgeerkrankungen zu schützen.
…spielten die homöopathischen Laienvereine gerade in diesem Bereich eine Rolle?
Ja, auf jeden Fall. Damals existierte in Deutschland eine starke – homöopathische – Laienbewegung. In ihren Zeitschriften, Rundbriefen und bei Versammlungen wurden Mitglieder über die Seuche informiert. Es gab Tipps und Diskussionen über homöopathische und weitere Maßnahmen. Es ist davon auszugehen, dass Aufklärung, Informationstransfer, Selbstfürsorge und -wirksamkeit, trotz etwaiger Fehleinschätzungen, einem besseren Outcome zuträglich waren. Die meisten der insgesamt wenigen Berichte aus Laienzeitschriften stammen aus den Jahren 1919 bis 1922. Das hängt mit den Begebenheiten am Kriegsende Ende 1918 zusammen, als die Spanische Grippe am stärksten wütete. So informierte der Schriftführer der „Homöopathischen Monatsblätter“ seine Leser darüber, dass sich, „insbesondere infolge von Krankheit und Todesfall in meiner Familie und stark vermehrter Arbeit im Vereinslazarett, das neuerdings seine Bettenzahl um weitere 30 auf 115 erhöhen mußte“, die September/Oktober-Ausgabe 1918 der Zeitschrift verspäte. Auch anderswo gab es kriegsbedingte Druck- und Lieferschwierigkeiten. Die Herausgeber der „Berliner Homöopathischen Zeitschrift“ schrieben zu Beginn des Jahres 1919, dass aufgrund von Papiermangel mehrere Hefte zusammengelegt und später als geplant erscheinen mussten.
Wie können wir uns die Kommunikation innerhalb der Homöopathenschaft vorstellen?
Ein Austausch untereinander war naturgemäß schwieriger als heute, aber er existierte, auch über nationale Grenzen hinweg. In homöopathischen Zeitschriften wurden Artikel zur Grippebehandlung durch Homöopathen aus anderen Ländern zur Seuche an sich, zur konventionellen Therapie, aber auch zu naturheilkundlichen Maßnahmen veröffentlicht. Festzustellen ist, dass es keine zentrale Referenz gab, an der sich die Homöopathen orientieren konnten.
…und wie war die öffentliche Wahrnehmung?
Das breite Interesse an – heute würde man sagen: integrativen Verfahren – konnte von der Politik nicht gänzlich ignoriert werden. Im Jahr 1919 wurde entschieden, dass sich unter den Mitgliedern des neu geschaffenen württembergischen Landesgesundheitsrates auch Vertreter von Homöopathie und von Naturheilverfahren befinden müssen. In Preußen wurde der Lehrstuhl für „Allgemeine Therapie“ mit einem naturheilkundlich orientierten Mediziner besetzt. Indirekt kann sich eine Anerkennung von Homöopathie und auch von Naturheilkunde während der Grippepandemie vermuten lassen. Vermutlich trug das von 1914 bis 1918 existierende Stuttgarter „Homöopathische Vereinslazarett“, entstanden durch ein Zusammenwirken des Laienvereins „Hahnemannia“, homöopathischen Ärzten, dem Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte und dem Mäzen Robert Bosch, zu diesem Renommee bei.
Homöopathische Ärzte waren weltweit unter unterschiedlichsten Bedingungen in die Behandlung der Pandemie involviert. Wie wurde speziell in New York die Grippe homöopathisch behandelt?
In NYC war der Gesundheitsbeauftragte der Stadt, Copeland, homöopathischer Arzt. Vor 1918 war er Dekan des New York Homeopathic Medical College and Flower Hospital. Während der Pandemie der Spanischen Grippe entschied er, Schulen, Theater und Kinos nicht, wie in anderen Städten geschehen, zu schließen, sondern diese für Aufklärungsmaßnahmen (Ansteckung, Hygiene, Bildertheater) zu nutzen. Hysterie, Angst und Panik sollte entgegengewirkt werden. Schulkinder bekamen ein warmes Mittagessen und wurden regelmäßig von Krankenschwestern und Ärzten untersucht und bei Symptomen Gesundheitsämtern überstellt. Verdachtsfälle wurden schnellstmöglich isoliert.
Behandlungsergebnisse aus dem homöopathischen Metropolitan Hospital in NYC zeigen teils hohe Todesraten (36 Prozent bei Lobärpneumonie, 26 Prozent bei Bronchopneumonie, 10 Prozent bei Influenza). Allerdings lebten die Patienten nach der Aufnahme zum Teil nicht einmal so lange, dass sie in ein Bett verbracht werden konnten, d.h. sie wurden sterbend eingeliefert. Das verdeutlicht den foudroyanten Verlauf, der für die Seuche typisch und für die extrem hohen Todeszahlen verantwortlich war.
Häufig liest man über die sehr guten Erfolge der homöopathischen Behandlung bei der Spanischen Grippe – können Sie das für uns einordnen?
Es gibt interessante Berichte, beispielsweise von der schwedischen Laienhomöopathin Klara Fransén, die diesen zufolge viele Menschen, auch per Brief, behandelte und etliche Danksagungen erhielt. Nach der Behandlung „hunderter Fälle“ war sie zu dem Schluss gekommen, dass „Bryonia alba der Genius epidemicus der Spanischen Krankheit“ ist. Im November 1918 gab sie in mehreren Stockholmer Zeitungen eine Anzeige unter dem Titel „Lebenselixir“ auf, mit der sie die Bevölkerung über „die wunderbare Heilkraft der homöopathischen Mittel gegen die herrschende Seuche“ aufklären wollte.
Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob Homöopathen Leicht- oder Schwererkrankte behandelten oder ob sie präventiv tätig waren. Die Daten weisen darauf hin, dass, je früher mit einer homöopathischen Behandlung begonnen wurde, sie umso erfolgreicher war. Waren die Patienten bereits schwer erkrankt und litten an Komplikationen, gab es teils hohe Todesraten, und ein außerordentlicher Behandlungserfolg war auch Homöopathen nicht beschieden. Zu berücksichtigen ist, dass die Behandlung der Spanischen Grippe durch Homöopathen komplex, mehrdimensional und individuell unterschiedlich war. Relevant bei der Beurteilung der Behandlungsresultate ist überdies der Zeitpunkt der Pandemie und der jeweilige Ort, denn die Virulenz war unterschiedlich.
Ein Mythos sind sicherlich einige heroische Zahlen, die immer wieder kolportiert werden, die sich aber bei genauerer Betrachtung nicht halten lassen. Das hat vermutlich viele Gründe. Zum einen musste die Homöopathie sich von Beginn an gegen Anfeindungen behaupten. Selbstverständlich geht man lieber mit Erfolgen an die Öffentlichkeit als mit Misserfolgen. Zudem befand sich die Homöopathie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einer Blütezeit Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts in einer Krise. In den USA mussten viele Ausbildungsstätten/Colleges schließen und die Anzahl der homöopathischen Kliniken reduzierte sich. Eine erfolgreiche Behandlung der Spanischen Grippe bot die Möglichkeit, an Reputation zu gewinnen. Viele, insbesondere ambulant tätige Ärzte, berichteten von ihren Behandlungserfolgen. Niemand überprüfte die Zahlen. Und welcher Kollege hätte im Austausch gerne zugegeben, dass er mit seiner Behandlung nicht so erfolgreich gewesen war?
Das soll nicht heißen, dass es diese Erfolge nicht gegeben haben kann. Aber es gibt häufig keine validen Daten. Gibt es Datenmaterial, weist es nicht die heutigen Standards auf. Das wiederum ist bei den Berichten der konventionellen Medizin nicht anders. Wissenschaft und Medizin sind immer im Wandel und entwickeln sich.
Können Sie ein Beispiel geben?
Ein Bericht, der oft als Erfolgsbeleg herangezogen wird, stammt aus dem Jahr 1921 von W.A. Dewey: Homeopathy in Influenza – A chorus of Fifty in Harmony“. Zu Wort kommen 50 Homöopathen, die Patienten während der Spanischen Grippe behandelten. Die Aussagen beziehen sich auf prophylaktische Maßnahmen, auf die Behandlung leichter und auf die schwerer Fälle. Manche Zahlenangaben wurden vermutlich mehrfach gezählt, integriert in die Auflistung wurde zum Beispiel eine weitere Sammelangabe, die durch eine Umfrage zu Stande gekommen war. Zudem wurde die Art und Weise, wie behandelt wurde, häufig nicht dargestellt.
Es gilt, eine homöopathische Behandlung von einer Behandlung durch Homöopathen zu unterscheiden. Es gab keine eindimensionale homöopathische Behandlung oder ein einheitliches homöopathisches Vorgehen. Es gab so gut wie immer Begleitbehandlungen. Deutlich wird auch, dass häufig allein der Verzicht auf die zweifelsohne teils schädlichen konventionellen Medikamente eine Zustandsverbesserung erbrachte. Manche der von homöopathischen Behandlern angegebenen Zahlen sind beeindruckend und es lohnt sich meiner Ansicht nach – erst recht angesichts einer fehlenden kausalen konventionellen Therapie -, zu prüfen, was mit einer homöopathischen Behandlung erreicht werden kann.
Sie bewerten die zeitgenössischen Berichte sehr kritisch, warum?
Eine kritiklose und undifferenzierte Wiedergabe der zeitgenössischen Berichte und Erfolgsmeldungen sollte, aufgrund der oben skizzierten Gründe, dringend vermieden werden. Aber auch aktuellere Aussagen zementieren einen Mythos. Beispielsweise heißt es in einem Buch zur Spanischen Grippe und ihrer homöopathischen Behandlung, es handele sich um „Nachweise über jene Zeit in der Geschichte, als sich die homöopathischen Ärzte der Herausforderung durch die entsetzlichste Grippepandemie in der Geschichte der Welt so erfolgreich stellten, und dies ohne die Angst und Unsicherheit, die ihre Kollegen der Schulmedizin lahm legten“. Das ist definitiv anhand der zeitgenössischen Darstellungen widerlegbar. Als Fazit heißt es weiter: „Diesen Homöopathen waren wegen der fehlenden Diagnose während der Epidemie nicht die Hände gebunden. Sie standen nicht hilflos am Bett der Patienten, kratzten sich am Kopf und fragten sich, an was für einer üblen Krankheit ihre Patienten starben und was sie vielleicht dagegen tun könnten. Sie mussten ‚der Krankheit keinen Namen’ geben, um ihren Patienten das Leben zu retten. Sie folgten einfach der bewährten homöopathischen Praxis. Sie nahmen jeden Fall genauestens auf und verschrieben dann das angezeigte homöopathische Mittel für den gerade vorliegenden Fall und überließen alles andere dem Heilmittel und der Lebenskraft des Patienten“. Auch hier lässt sich nahezu jeder Satz, vor allem in seiner Pauschalität und Absolutheit, widerlegen.
Leider wird die Legende fortgeführt. Generell führt Vermessenheit selten zur gewünschten Anerkennung, und das, was man von anderen erwartet, sollte man selbst auch beherzigen.
Es gab doch auch positive Beispiele. Sie berichten in Ihrer Arbeit von dem Betriebsarzt Wieland, der bis auf einen alle 8.000 Mitarbeiter durch die Pandemie brachte. Wie hat er das geschafft?
Der homöopathische Arzt Wieland beschrieb Gelsemium als das epidemische Mittel der damaligen Influenzapandemie. Er ließ Gelsemium in vier Liter umfassenden Gallonen liefern und versorgte damit die Mitarbeiter der ihm unterstellten Fabrik. Er und seine Kollegen entwickelten ein Influenza-Management, wonach jede Person mit einer Temperatur über 37,8°C zu Hause drei Tage Bettruhe einhalten musste. Bei Befolgung dieser Anweisung wurde das Gehalt weitergezahlt. Überdies wurden „fünf Tropfen Gelsemium jede Stunde sechs Stunden lang gegeben, und dann zweistündlich, bis weitere Anordnungen“ erteilt wurden. Es sei lediglich ein Mann an Pneumonie verstorben. Die Ärzte und Krankenschwestern hätten „Nacht und Tag gearbeitet. Kein Aufwand sei gescheut worden, um das Leben unserer Arbeiter zu retten“. Wieland berichtete, dass „ein zweifelnder Professor einer großen Universität“ ihm mitteilte, dass „eure Homöopathie nichts damit zu tun hat; es war eure Pflege der Patienten, die euch eure phänomenalen Ergebnisse erbrachte“. Wieland gab zu bedenken, dass auch „andere Ärzte den Vorteil von Hospitälern und Krankenschwestern hatten; zudem hatten sie ausreichende Kenntnisse von Aspirin und Digitalis und Strychnin; und dennoch starben ihre Patienten zu Hunderten und unsere lebten“. Laut Wieland kam der Leiter eines der großen Krankenhäuser der Stadt „zu uns und sagte: ‚wir verloren zwei unserer Internisten und drei unserer Krankenschwestern und unsere Patienten sterben wie Fliegen. Wenn ihr irgendetwas wisst, das unsere Patienten rettet, teilt das Wissen mit uns’“. Und tatsächlich, so Wieland, waren „die meisten Käufer der homöopathischen Heilmittel Ärzte der Alten Schule“. Mit dem „sich über jedem Krankenbett zeigendem Tod erlaubten diese Ärzte sich keine Vorurteile, die zwischen ihnen und dem Wohlergehen ihrer Patienten standen“.
Gab es einen Genius epidemicus?
Viele suchten und behandelten nach dem Genius epidemicus, also einer Gruppe weniger homöopathischer Arzneien, die den Großteil der [spezifischen] Symptome der jeweiligen Epidemie abdecken sollen und dem/der Einzelnen möglichst individuell verabreicht werden. Hier wurde unterschiedlich vorgegangen. In Anbetracht der innerhalb kürzester Zeit auftretenden fulminanten Krankheitsfälle – heute sprechen wir von exponentiellem Wachstum – unterteilten nicht wenige Homöopathen ihre Fälle in Gruppen von einigen wenigen Homöopathika, die sie bereits herausgearbeitet hatten und verabreichten dann nach einer kurzen Begutachtung und Anamnese den jeweiligen Symptomen entsprechend. Manche Homöopathen sahen ihren Angaben zufolge bis zu 100 Patienten täglich. Dank der Vorarbeit und Suche nach den Epidemika bedurfte es nur „einiger Fragen am Krankenbett“, um das am besten passende Homöopathikum zu finden. Sehr häufig als epidemische Mittel genannt wurden Bryonia, Gelsemium, Arsenicum, Rhus toxicodendron, Eupatorium perfoliatum, und insgesamt auch Aconitum, Belladonna, Ipecacuanha, Phosphorus, Baptisia und Influenzinum.
Schlagen wir den Bogen in die heutige Zeit: Ist die Spanische Grippe mit Covid-19 vergleichbar?
Manche Faktoren sind vergleichbar: beide Male verursacht ein Virus eine Pandemie und beide Male gibt es einschneidende Auswirkungen. Im Gegensatz zu damals wusste man beim Coronavirus relativ schnell, um was es sich handelt. Das Grippevirus hingegen wurde erst im Jahr 1933, also 15 Jahre später, entdeckt. Eine kausale Therapie gab es weder damals noch aktuell. Damals wie heute forschte man an Impfstoffen. Zur Zeit der Spanischen Grippe gab es keine Intensivstationen mit ihren technischen Möglichkeiten wie Beatmungsgeräten und keine Antibiotika zur Behandlung opportunistischer Keime. Die Spanische Grippe heißt übrigens so, weil Spanien als neutrales Land als erstes von der Seuche berichtete. Die kriegsführenden Staaten hatten kein Interesse daran, die Moral der Soldaten und der Bevölkerung zusätzlich zu untergraben und verleugneten die Existenz der Seuche zunächst. Das ist heutzutage in vielen Ländern anders, wo auf Aufklärung und größere Transparenz gesetzt wird.
Damals gab es kein social distancing, aber man klärte über Hygienemaßnahmen auf. In einigen Orten wurde das Tragen von Masken zur Pflicht, mancherorts führte man Quarantänemaßnahmen durch usw. Es gab und gibt Heilsversprechen, Geschäftemacherei, aufblühendem Aberglauben getriggert durch Angst, Verschwörungstheorien, Verleugnung, Solidaritätsaktionen, Hilfsbereitschaft, wirtschaftliche Auswirkungen, prominente Verstorbene – damals wie heute. Es gibt also vergleichbare Aspekte. Aber die jetzigen Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung des Virus gekoppelt mit den Vorbereitungen im medizinischen Sektor, noch dazu in vielen Ländern, gab es damals nicht.
Es wird zunehmend über erfolgreiche homöopathische Behandlungen bei Covid-19 berichtet. Wie bewerten Sie dies?
Das stimmt. Es mehren sich Fallbeschreibungen von Homöopathen und Homöopathinnen, die SARS-CoV-2/COVID-19 – PatientInnen behandeln und behandelten. Ebenfalls wird von homöopathischen Prophylaxemaßnahmen berichtet, u.a. aus einem Marinekrankenhaus in Thailand, wo mehr als 1.500 Angestellte ein bestimmtes Homöopathikum präventiv einnahmen. Apotheken, auch in Deutschland, berichten von einem Ansturm auf Homöopathika. Um aus den Maßnahmen und Behandlungen valide Aussagen zu rekrutieren, sollten die Behandlungen samt ihrer Verläufe nach – möglichst einheitlichen – Kriterien dokumentiert und ausgewertet werden.
Was raten Sie der heutigen nationalen und internationalen Homöopathenschaft aus Ihren Erfahrungen?
Ich wünsche mir eine Versachlichung der Diskussion und Offenheit auf allen Seiten. Wir haben es mit einer Pandemie zu tun. Weltweit sind Millionen Menschen in ihrem Alltag und ihren Existenzgrundlagen – ihrem Sozialleben mit allem, was dazu gehört -, betroffen und teils massiv bedroht. Insgesamt geht es um ein Miteinander. Ausgrenzung und Grabenkämpfe sind nicht förderlich; Kooperationen sind wichtig. Das gilt auch für die Medizin. Fachdisziplinen sollten über den Tellerrand schauen und zusammen für das Wohl der PatientInnen arbeiten. In China beispielsweise wurden COVID-19 Patienten mit Traditioneller Chinesischer Medizin behandelt. Publikationen hierzu sind zu erwarten. Wünschenswert sind eine aufgeschlossene Auseinandersetzung und ehrliche Evaluation von allen Seiten. Die Homöopathenschaft sollte – trotz Schwierigkeiten und Gegenwind – Daten generieren und auswerten und hierfür Kriterien entwickeln. Fakt ist, dass in vielen Ländern der Welt, auch in der aktuellen Situation, Homöopathie angewendet wird.
Es gilt zu analysieren, ob, wann und in welcher Form Homöopathie einen Nutzen erbringt. In der jetzigen Situation, der „Corona-Krise“, sind die Erfahrungen der Homöopathen während der Spanischen Grippe und die sich daraus ergebenen Problemstellungen zu berücksichtigen, aber nicht ohne weiteres übertragbar. Aus den Erfahrungen der Homöopathen während der Spanischen Grippe kann nicht eine generell bessere Wirkung der Homöopathie im Vergleich zur konventionellen Medizin postuliert werden. Die Homöopathie hat den Vorteil, dass – wird sie von qualifizierten Behandlern eingesetzt – unerwünschte Wirkungen kaum zu erwarten sind. Wichtig sind – wie bei jeder Therapieform – eine ständige Begleitung und Kontrolle der eingeleiteten Therapie mit einer regelmäßigen Verlaufskontrolle und gegebenenfalls einer Klinikeinweisung.